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Erinnerung, Verantwortung, Wandel: Die Geschichte eines Namenswechsels

Ein graues Gebäude mit zwei Stockwerken. Links ist der Eingang des Gebäudes.
Das Wohnheim liegt im Kieler Stadtteil Ravensberg in der Johann-Fleck-Straße.

Anfang 2025 wurde das Studierendenwohnheim, das ursprünglich den Namen „Prof.-Hallermann-Haus“ trug, in „Dr.-Aenne-Liebreich-Haus“ umbenannt. Mit dieser Entscheidung distanziert sich das Studentenwerk SH ausdrücklich von den Verstrickungen Prof. Dr. Wilhelm Hallermanns (1901–1975) in das nationalsozialistische Herrschaftssystem.

Gründe für die ursprüngliche Namensgebung

Das 1983 eröffnete Wohnheim, das sich in der Johann-Fleck-Straße 6–14 in Kiel befindet und Platz für über 300 Studierende bietet, wurde ursprünglich nach Prof. Dr. Wilhelm Hallermann benannt. Das „selbstlose erfolgreiche Eintreten von Prof. Dr. Hallermann für die sozialen Belange der Studenten über mehr als zwei Jahrzehnte auf Landesebene und über viele Jahre auf Bundesebene in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Vorstandes des Deutschen Studentenwerks e.V.“1 führte der Vorstand des Studentenwerks SH seinerzeit als Begründung für die Benennung des neuen Wohnheims an. Darüber hinaus wäre Hallermann am 17. März 1981 80 Jahre alt geworden, was der damalige Vorstand als weiteren Anlass für die Benennung betrachtete.

Prof. Hallermann engagierte sich über Jahrzehnte hinweg maßgeblich für die Interessen der Studierenden. Als Hochschullehrer an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) (ab 1941), Vorsitzender des Studentenwerks SH (1946–1969) und Präsident des Deutschen Studentenwerks (1956–1967) setzte er wichtige Impulse in der Nachkriegszeit.

Anlässlich seines Ruhestandes wurde der sogenannte „Vater der Studenten“2 durch einen Fackelzug begleitet.

Prof. Dr. Wilhelm Hallermann, Rechtsmediziner, Leiter des Instituts für Gerichtliche und Soziale Medizin der Christian-Albrechts-Universität (CAU), außerdem langjähriger Leiter des Studentenwerks Schleswig-Holstein. Als Gutachter in den Fall Heyde-Sa
Der ehemalige Namensgeber des Wohnheims: Prof. Dr. Wilhelm Hallermann (Kieler Stadtarchiv, 46.881: Prof. Dr. Wilhelm Hallermann, Mai 1970 Fotograf: Friedrich Magnussen (CC BY-SA 3.0 DE))

Nachweisbare Handlungen und Verstrickungen im NS-Kontext

Das Gutachten zeichnet ein ambivalentes Bild des ehemaligen Kieler Hochschullehrers. Es würdigt seine Verdienste um die Rechtsmedizin und die Universität Kiel, stellt jedoch seine nachweisbaren Handlungen und Verstrickungen im NS-Kontext kritisch gegenüber.

Zu den nachweisbaren Handlungen und Verstrickungen gehören:

  1. Mitgliedschaften in NS-Organisationen: Wenn auch überwiegend passiv, aber im Sinne seiner Karriereorientierung, war Hallermann Mitglied in mehreren NS-Organisationen: SA (1933), NS-Dozentenbund (1937), NSDAP (1937) und NS-Ärztebund (1940). Er war laut eigenen Angaben in seiner Entnazifizierungsakte3 auch Mitglied in der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV, ab 1936) und im Reichsluftschutzbund (ohne Jahr).
  2. Gutachtertätigkeit für das NS-Sondergericht Kiel: Hallermann übernahm freiwillig die Aufgabe, psychologische Gutachten für das NS-Sondergericht Kiel zu erstellen, bei denen er sein medizinisches Fachgebiet überschritt und durch die Übernahme von NS-ideologischen Argumenten indirekte Begründungen für harte Urteile, unter anderem Todesstrafen, lieferte.
  3. Gutachtertätigkeit für das Erbgesundheitsgericht Kiel: Als freiwilliger Beisitzer am Erbgesundheitsgericht war Hallermann aktiv in Beschlüsse zur Zwangssterilisierung eingebunden. Er bestätigte die Entscheidungen des Erbgesundheitsgerichts auch nach 1945.
  4. Netzwerkaktivitäten und Heyde/Sawade-Affäre: Hallermann war Teil eines weitreichenden, eingespielten und auch nach Kriegsende fortbestehenden Netzwerkes. Als gesichert gilt seine Mitwisserschaft in der Heyde/Sawade-Affäre, auch wenn er diese stets leugnete. Hierbei deckte er den ehemaligen SS-Arzt Werner Heyde (1902–1964), der im Rahmen der „NS-Euthanasie“ für die Morde an über 80.000 Menschen verantwortlich war.
  5. Verharmlosung von verdächtigen Todesfällen: Hallermann wurde 1961 als Gutachter herangezogen, um im Rahmen von „Euthanasie-Ermittlungen“ verdächtige Todesfälle in der „Kinderfachabteilung“ der Psychiatrischen Klinik Schleswig zu untersuchen. Obwohl die Patient*innenakten einige Auffälligkeiten aufweisen, stellte Hallermann als Sachverständiger keine Anzeichen für „aktive Euthanasiemaßnamen“ fest.

Zukunftsorientierter Neuanfang

Das Wohnheim trägt ab sofort den Namen „Dr.-Aenne-Liebreich-Haus“. Damit würdigt das Studentenwerk SH eine talentierte Wissenschaftlerin, deren Karriere und Leben durch die Verfolgung im Nationalsozialismus zerstört wurde. Ihr Schicksal steht beispielhaft für viele jüdische Wissenschaftler*innen jener Zeit.

Dr. Aenne Liebreich wurde am 2. Juli 1899 in Bocholt als Tochter einer jüdischen Fabrikantenfamilie geboren. Sie studierte ab 1921 Kunstgeschichte, Geschichte und Archäologie in München, Berlin und Bonn, wo sie 1925 promovierte. Ihre Spezialisierung auf mittelalterliche Kunst führte sie nach dem Studium als Volontärin an das Wallraf-Richartz-Museum in Köln, wo sie am Katalog der mittelalterlichen Miniaturen mitarbeitete.

1927 trat sie eine Stelle am Kunsthistorischen Institut der CAU an. Dort arbeitete sie zunächst als Volontärassistentin und ab Frühjahr 1927 als Assistentin unter der Leitung von Prof. Dr. Arthur Haseloff (1872–1955). Ihre Forschungstätigkeit, ihre Unterstützung für Prof. Haseloff sowie ihr engagierter Einsatz für Studierende und Doktoranden wurden allgemein hochgeschätzt.

Während dieser Zeit verfasste sie eine Habilitationsschrift über den niederländisch-burgundischen Bildhauer Claus Sluter (1340er Jahre–1405 oder 1406), die in Fachkreisen einhellig gelobt wurde. Ihre Habilitation konnte sie jedoch aufgrund der antisemitischen Politik des Nationalsozialismus nicht abschließen. Am 30. April 1933 wurde sie wegen ihrer „nicht-arischen“ Abstammung beurlaubt und am 30. Juni 1933 auf Grundlage des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ aus dem Universitätsdienst entlassen. Andernfalls hätte sie sich als eine der ersten Frauen in Deutschland im Fach Kunstgeschichte habilitieren können.

Im Exil in Paris setzte sie ihre wissenschaftliche Arbeit fort und wurde Assistentin bei Henri Focillon am Institut d'art et d'archéologie an der Sorbonne. Außerdem wurde sie aufgrund ihrer Forschungen zum korrespondierenden Mitglied der Akademie von Dijon ernannt. Ihr Aufenthalt wurde durch Stipendien finanziert.

1934 und 1935 übersetzte sie neben der Lehre ihre Habilitationsschrift ins Französische und reichte sie erfolgreich als Promotionsschrift ein. Das daraus entstandene Buch erschien 1936 und wurde sehr positiv aufgenommen. Trotz dieses Erfolgs fand sie nach Ablauf ihrer Stipendien weder in Frankreich noch in England eine dauerhafte Anstellung. Am 22. Juli 1939 nahm sich Dr. Aenne Liebreich im Pariser Exil das Leben.

Dr. Aenne Liebreichs Andenken wird an der CAU durch den seit 2019 verliehenen Aenne-Liebreich-Preis gewürdigt, der Arbeiten mit Bezug zu gesellschaftlicher Vielfalt und sozialer Gerechtigkeit auszeichnet. Darüber hinaus erinnert ein Stolperstein im Niemannsweg 133 an ihr Schicksal.

1 Studentenwerk SH. Bericht des Vorstandes I. Quartal 1981, S. 2.
2 Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 47.6, Nr. 1350. Medizinische Fakultät, Personalakte Wilhelm Hallermann.
3 LASH, Abt. 460.19, Nr. 121

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